Kultur: Venedig im Juni 2020
Venedig ist immer eine Reise wert. Doch auch im Juni 2020? Nach 3-monatigem Corona-Lockdown? Mich trieb die Sehnsucht in die Serenissima, Neugier auf eine touristenfreie Stadt und der Wunsch, meine Freunde vor Ort endlich wieder persönlich zu sprechen. Umarmen war noch nicht angesagt. Ein Erfahrungsbericht.
Inhaltsverzeichnis
Ein leicht mulmiges Gefühl beschleicht mich, als ich über die Ponte della Libertà fahre. Wie wird Venedig sein? Ist es nicht doch viel zu riskant jetzt schon Venedig zu besuchen?
Hinter mir liegt eine 6,5 stündige Autofahrt. Die Straßenbaugesellschaften haben die Corona bedingten leeren Autobahnen genutzt, um Baumaßnahmen durchzuführen. Oder zumindest anzufangen. Denn nun laufen die Arbeiten weiter – bei zunehmendem Verkehrsaufkommen. Ab der Auffahrt zur A93 folgt eine Baustelle der anderen – bis Bozen Nord, eine Strecke von gut 215 km. Erschwert wird das Fahrvergnügen durch die langen Reihen an LKWs, die gerne nicht nur die zweite, sondern wo möglich auch die dritte Fahrspur für sich beanspruchen. Kontrolliert werde ich nicht – weder an der österreichischen noch an der italienischen Grenze. Die Strecke zwischen Verona und Venedig ist nicht anders als sonst: viele LKWs und nur eine Spur für die PKWs.
Ich habe in der Garage Comunale, an der Piazzale Roma, meinen Parkplatz gebucht und wie immer werde ich auf die Plattform 10 geschickt. Hier erlebe ich bereits die erste Überraschung. Der Parkplatz ist voll! So voll, dass ich auf das Parkdeck 11 ausweichen muss und froh bin, das Auto irgendwo dazwischen quetschen zu können. Die Kennzeichen sind hauptsächlich italienisch, doch ich sehe auch einige deutsche (bayerische) und Schweizer Kennzeichen. Und dann mache ich mich auf in die Serenissima.
Piazzale Roma – Strada Nuova
Die Ponte Calatrava, jenes viel kritisierte Bauwerk von Renzo Piano, ist quasi menschenleer, auf dem Canal Grande fährt vereinzelt ein Boot – Vaporetti sind keine zu sehen. Der Platz vor dem Bahnhof Santa Lucia ist menschenleer. Die gegenüberliegenden Schalter für die Vaporetti sind verwaist, einer ist geöffnet, doch niemand will ein Ticket kaufen. Ich gehe weiter durch die Strada Nuova.
Hier herrscht normaler Weise eine unangenehme Enge: an den Bancarelle mit Venedig-Kitsch drängen sich die Touristen, die Ponte delle Guglie ist nur ganz am Rand zu überqueren. Jetzt: nichts und niemand! Ich gehe weiter, biege an der Chiesa Santi Apostoli rechts ab Richtung Rialto und schon bin ich am Campo San Bartolomeo. In Vor-Corona-Zeiten stets völlig überfüllt – nicht nur wegen der nahe gelegenen Rialtobrücke, sondern auch wegen des (jetzt geschlossenen) Fondaco dei Tedeschi.
Campo San Bartolomeo – San Marco
Auf dem Weg zu meiner Unterkunft (etwa 3 Minuten vom Markusplatz entfernt) gehe ich durch eine menschenleere Gasse. Ein Geschäft hat geöffnet, die anderen sind nicht nur zu, sondern verrammelt.
In meiner Unterkunft werde ich freudestrahlend von Martina begrüßt. Wir erzählen uns von den letzten Monaten und ich bin dankbar, wie gut wir es doch getroffen haben. In Venedig galten strengste Ausgangsbeschränkungen: man durfte sich maximal 200 m von zuhause entfernen, immer einen triftigen Grund haben, um das Haus zu verlassen (natürlich stets die sogenannte autocertificazione in der Tasche) und ansonsten war man auf sein unmittelbares Umfeld reduziert. Seit zwei Wochen hat das Istituto nun wieder geöffnet, doch die Buchungen sind rar. Neben mir übernachten noch zwei andere Damen (Italienerinnen) hier. Für das Wochenende haben sich zwei Paare angekündigt.
Piazza San Marco
Venedig, Mitte Juni, 14.00 Uhr: der Platz ist quasi leer. An den Arkaden sind Tische und Stühle aufgebaut, doch nur das Café Quadri hat geöffnet. Ansonsten hört man Hämmern und Schlagen. Es kommt von den verschiedenen Baustellen, die um den Markusplatz hochgezogen wurden. Ich gehe an den äußersten Rand zum Museo Correr, geschlossen, und habe freien Blick auf den Duomo di San Marco. Es ist einerseits ganz wunderbar still, andrerseits geradezu beklemmend. Das Café Florian liegt verwaist, alles ist zu. Der Pianist des Café Quadri spielt Lieder wie ‚Non ti scordar di me‘. Ich sitze auf einem der gelben Stühle des Café Lavena und genieße die Stimmung. Niemand bedient mich, niemand will etwas von mir. Ich darf einfach so dasitzen, staunen und mein Herz mit Venedig vollsaugen.
Dann mache ich mich auf zum Campo Santo Stefano. Vorbei an den Luxusläden, die zwar geöffnet sind, aber leer – es fehlen die asiatischen Kunden. Der Gondelparkplatz vor dem Hotel Bauer liegt ebenso still da wie die Gondola-Traghetto vor der Haltestelle Santa Maria del Giglio. Das Vivaldi Museum mit seinen wunderbaren Musikinstrumenten und der im Hintergrund leise spielenden Musik ist geschlossen. Auf dem Campo treffe ich endlich auf ein bisschen Leben. Die Eisdiele hat geöffnet und ist gut frequentiert. Als ich den Ober frage, wie es denn so laufe, beklagt er sich jedoch: ‚è tutt‘una catastrofe. Non ce la faremo‘. (es ist alles schrecklich. Wir werden es nicht schaffen). Er ist der einzige, der sich so äußert. Alle anderen, mit denen ich spreche, sind – wenn nicht optimistisch – dann zumindest zuversichtlich und meinen: Venezia sopravvivrà anche questa pandemia! (Venedig wird auch diese Pandemie überleben)
Ponte di Rialto
Beim Rückweg gehe ich über den Campo San Vidal zum Campo San Bartolomeo. Hier steht die Goldoni Statue, die normaler Weise ein Treffpunkt für alle ist. Jetzt steht hier fast niemand. Auch auf der Rialto-Brücke sind kaum Menschen. Also verlängere ich meinen Spaziergang und überquere sie.
Der Blick auf den Canal Grande ist wunderschön – und erschreckend zugleich: wunderschön, wie das Wasser so still dahingleitet. Erschreckend, weil alles wie tot wirkt, verlassen. Auf der gegenüberliegenden Seite (Riva del Vin), dort wo sonst die Camerieri jeden aufhalten, der vorbeigeht, sind Stühle auf einander gestapelt, zur Seite geschoben, Fenster und Türen geschlossen. Nur ein Restaurant ist geöffnet. Es ist aber noch mit Aufbauarbeiten beschäftigt. Ich gehe weiter zum Campo San Polo. Auch der größte Campo Venedigs ist menschenleer – dafür wird fleißig gearbeitet. Im Sommer findet hier das ‚cinema sotto le stelle‘ (Kino unter Sternen) statt, im Winter ist eine große Eislauffläche das Ziel aller Kinder. Jetzt höre ich nur den Wind und die Bohrmaschinen.
Cichetti
Immerhin hat ‚il Mercante‘ offen, meine Lieblingsbar direkt an der Fondamenta Frari. Seit drei Wochen haben sie nunmehr am späten Nachmittag und Abend geöffnet. Die Vormittage und das Mittagsgeschäft müssen noch warten.
Am nächsten Tag treffe ich mich mit einer gehfreudigen Damen-Gruppe, denen ich mein Venedig zeigen darf. Und so überqueren wir die Ponte delle Guglie (mit bereits bedeutend ‚mehr‘ Fußgängern – vielleicht 20?) und gehen ins Ghetto. Dort sind wir quasi die einzigen, die diese besondere Atmosphäre auf sich wirken lassen. Die Synagogen haben erwartungsgemäß geschlossen. Aber dies ist nicht außergewöhnlich. Auch zu ‚normalen‘ Zeiten sind ihre Öffnungszeiten außergewöhnlich. Das Sestiere Cannaregio ist hingegen fast belebt. Hier gibt es noch viele Handwerksbetriebe, kleine Osterien und auch in Vor-Corona-Zeiten wenig Touristen.
Wir gehen an den Fondamenta entlang, an der Scuola Grande della Misericordia vorbei zur ältesten Brücke Venedigs: aus Stein, ohne Geländer. In der Strada Nuova ist nun schon mehr Volk unterwegs, aber wir haben immer noch viel Platz – kein Vergleich zu sonst. Der Seitenweg zur Hochzeitskirche Santa Maria dei Miracoli ist wieder menschenleer.
Gondolieri
Am Rio dei Miracoli versuchen die Gondolieri ihr Glück und wollen uns eine Gondelfahrt ‚molto bello‘ schmackhaft machen. Als sie uns Italienisch reden hören, geben sie es schnell auf. Sie verbringen die Zeit mit einsamen Gondelfahren, um nicht aus der Übung zu kommen, mit Kartenspielen oder auch mit ihrem Handy. Wenn man bedenkt, dass eine Lizenz bis zu 700.000 Euro kostet, ist auch hier die Existenzangst groß.
Alltag
Wir gehen weiter zur Chiesa di Zanipolo (Santi Giovanni e Paolo), die geöffnet ist. Auf dem Campo vor der Kirche spielen Kinder Fußball. Die beiden links vom Eingang in der Wand eingelassenen Grabmäler dienen ihnen dabei als Tore. Auch die Scuola Grande di San Marco ist geöffnet. Wir sind die einzigen Besucher, die die breite Treppe zur Sala dell’albergo hinaufgehen. Die Schönheit der phantastischen Kassettendecke ist in der unwirklichen Stille, die rund um uns herrscht, nochmals beeindruckender.
Acqua Alta – die Buchhandlung
Auf dem Weg zum Campo Santa Maria Formosa machen wir einen kurzen Halt in der Buchhandlung Acqua Alta. Sie war beim letzten Hochwasser fast vollkommen zerstört worden. Nun haben die Besitzer die letzten Wochen genutzt, um sie zu restaurieren und wieder genau so herzurichten wie vor dem letzten Hochwasser. Hier treffen wir auf ungewöhnlich ‚viele‘ Besucher. Verglichen mit sonstigen Massen, sind es jedoch immer noch wenige Leute.
San Marco
Am Markusplatz sind wieder nur eine Handvoll Leute und vor dem Dom steht – niemand. Die Kirche selbst ist weiterhin geschlossen, doch wir kaufen ein Ticket für 5,00 Euro und besteigen den Balkon. Die Stufen hinauf sind sehr steil, teilweise schwer zu gehen und so wundert es im Nachhinein nicht, dass der Wärter einen sehr fülligen Mann auf das mögliche Scheitern seines Vorhabens hingewiesen hat. Wir genießen den Blick vom Balkon – mit uns vielleicht noch 10 andere Personen. Links die Piazzetta San Marco mit den beiden Säulen (Markus und Teodoro), vor uns der menschenleere Markusplatz und rechts die Torre dell’Orologio und die leeren Gassen, die ins centro centro führen. Auch hier eine unwirkliche Schönheit, die wir mit gemischten Gefühlen genießen.
Ponte dell’Accademia
Der Weg zum Bahnhof führt über die Accademia Brücke. Ein grandioser Anblick: die Kirche Santa Maria della Salute im Sonnenlicht, keine Vaporetti unterwegs, auf der anderen Seite der Brücke sehen wir einen Ruderer mit seinem Kanu. Er ist ganz allein auf dem breiten Canal Grande …
An den Fondamenta Gherardini liegt wie immer das Boot aus Sant’Erasmo. Voll beladen mit frischem Obst und Gemüse, in Wasser eingelegten Artischocken-Böden, frischen Tomaten und köstlich riechenden Erdbeeren. Wir sind die einzigen, die hier Obst erstehen. Die angrenzenden Läden sind alle geöffnet, die Ladenbesitzerinnen stehen auf der Fondamenta und unterhalten sich. Der Campo Santa Margherita liegt im Sonnenschein. Auf den Bänken sitzen vereinzelt Leute, Studenten sehen wir keine. Am Abend ist die Osteria La Bifora jedoch bis auf den letzten Platz belegt. Hier habe ich fast das Gefühl als wäre alles so wie immer – außer natürlich das Prozedere mit den Masken (mascherine). Beim Betreten des Lokals sind sie aufzusetzen, sobald man am Tisch ist, kann man sie abnehmen. Eine Platzreservierung ist erwünscht (bei der Bifora nötig).
Abschied
Am Abend geht ein wildes Gewitter über Venedig nieder. Das Wasser tritt über die Riva degli Schiavoni, doch nur der Markusplatz steht unter Wasser. Der Duomo spiegelt sich in der Wasseroberfläche und zeigt sich in doppelter Schönheit.
Am nächsten Morgen nehme ich das Vaporetto zurück zur Piazzale Roma. Erstaunlich viele Leute wollen an Rialto mit mir einsteigen. Das Service Personal passt auf, dass wirklich jeder seine Maske hochgezogen hat. ‚Signore, la mascherina‘! Doch nur die Rialto Haltestelle ist bevölkert. An den anderen Haltestellen warten wenige Personen, noch weniger möchten aussteigen. So verweilt das Vaporetto einige Minuten an der jeweiligen Haltestelle, der Bootsführer unterhält sich mit seinen Gästen und hupt, wenn ein anderes Vaporetto entgegenkommt. Es ist ein freudiges Hupen, kein gestresstes oder genervtes. Auf dem Canal Grande sind Lieferboote unterwegs, Handwerker mit ihren Materialien und die Müllabfuhr.
Am Bahnhof Santa Lucia steigen nur wenige Passagiere aus. Kein Wunder, fahren die Züge von und nach Österreich ja erst wieder ab dem 30.6. An der Piazzale Roma stehen die Soldaten mit ihren Maschinengewehren. Die Verkehrspolizisten regeln den wenigen Verkehr und stehen in Dreiergrüppchen und dem vorgegebenen Abstand zusammen.
Als ich an meinem Auto ankomme, sehe ich bereits sehr viel mehr deutsche Kennzeichen. Meine Freundin Susanne, Stadtführerin in Venedig und seit 30 Jahren hier wohnhaft, hatte mir erzählt, dass bereits vor zwei Wochen die Ponte della Libertà dichtgemacht worden war: die Parkhäuser waren überfüllt. Für die nächsten Wochenenden erwarten die Venezianer einen ähnlichen Andrang. Von Leuten aus dem Veneto und den anliegenden Regionen. Diese nutzen nun die Gelegenheit, endlich einmal Venedig zu besichtigen. Mit den sonst üblichen Touristenmassen haben sie die Serenissima immer gemieden …
Fazit: Ich bin dankbar und glücklich, Venedig so erlebt zu haben. Doch die Fragen bleiben: Wird Venedig es schaffen vom Massentourismus los zu kommen? Wird es endlich ein neues Bewusstsein geben? Oder wird nach dieser Ruhepause, die der Natur, den Einwohnern und der Stadt so gut getan hat, wieder das Geld regieren?